Geht man davon aus, dass ein Mensch mehrere Personen in sich trägt, wurde die Person, die hier von Bedeutung ist, im Juni 1985 in einem Krankenhaus unweit der Wälder geboren, in denen die Römer im Jahr 9 nach Christus eine vernichtende, historische Niederlage gegen die Germanen erlitten (obwohl das ja inzwischen wieder in Frage gestellt wird).
In der Erinnerung waren die Flure der Klinik eng und kalt, ein bräunlicher Farbton sickerte durch die Gardinen, abgeschwächte Sonnenstrahlen eines Sommers, der an dem damals fast sechsjährigen Kind vorbeizog, das bisher von den bizarren Möglichkeiten des Schmerzes verschont geblieben war.
Eine unvorstellbar gemeine Entzündung der Blase, die das Wasser der Toilette rot färbte, hatte ihn in ein Zimmer geführt, in dem andere Kinder ihn empfingen, alle mit ihrer Geschichte, ihrer eigenen Krankheit. Völlig desorientiert, Lichtjahre von der Gewohnheit seines bisherigen Lebens entfernt, verbrachte er Wochen in konservierter Langeweile, die sich wie ein unverrückbares Naturgesetz durch das Krankenhaus zog. Nur selten fanden er und seine neuen Begleiter Abwechslung in Form von Besuchen, heimlich eingeschleusten Süßigkeiten und mehr oder weniger großen Operationen. Sie waren Gefangene der Zeit, des Raumes, den sie nur selten verlassen durften. Und sie waren voller Demut, ein neues Etwas in einer noch völlig fremden Welt. Sie akzeptierten, dass es ihnen kurzzeitig schlecht ging – vor allem wenn sie ihr Zimmer verließen und kurz, nur ganz kurz, ängstlich nach rechts guckten, zu der Tür, diese unheimliche Tür, die sie von dem trennte, was sie noch nicht wirklich verstanden, eine diffuse Angst. Nur konnte ihnen keiner etwas vormachen. Natürlich wussten sie, dass hinter dieser Tür die Kinder versteckt wurden, denen es noch schlechter ging als ihnen, die vielleicht an Krankheiten starben, die sie nicht aussprechen konnten, ohne Frage, müde und fahl die Gesichter der Erwachsenen, die durch diese Tür schritten.
Eingerahmt vom Stillstand der Zeit, während die universelle Sicherheit langsam Risse bekam, suchten sie nach Zerstreuung, dankbar für jede Ablenkung, die ihnen zuteil wurde. Genau in dieses Nichts trat sein Großvater, klein und mit einem gemütlichen Bauch, als er die Zimmertür öffnete. Mit einer für ihn ungewohnt flinken Bewegung schob er etwas Süßes unter die Matratze seines kleinen Bettes, Soft Cake Orange. Viel wichtiger: Darauf überreichte er, während seine Frau, schüchtern und voller Liebe, sich an seine Seite stellte, seinem Enkel ein Buch, von dem dieser irgendwann in seiner fernen Zukunft behaupten würde, dass es vielleicht sein Leben maßgeblich beeinflusst hat: Das Dschungelbuch.
Es war nicht unbedingt die Kraft der Geschichte, die sich hinter den bunten Bildern versteckte. Vielmehr war es die Magie der Buchstaben, die sich darunter wild aneinanderreihten und den Kindern unerschlossen blieben. Es war an der Person, die hier von Bedeutung ist, als Besitzer des Buches, diesen Mangel auszugleichen, ein Schauspiel aufzuführen, indem sie so tat, als könnte sie lesen. Dabei erzählte sie nur, geleitet von den Bildern, eine wahrscheinlich hanebüchene Geschichte, die in ihrem Kopf und in denen der anderen Kinder mit jedem Wort weiter in den Rausch der Fantasie getragen wurde.
Obwohl sie noch so jung war, noch so naiv in ihrem Blick auf die Welt, verstand sie eines: Die Kunst des Erzählens ist eine Kraft, die stärker ist als alles, vielleicht sogar stärker als der Tod.
Seit diesem Tag trägt sie diese Erfahrung mit sich. Sie spürte sie, als sie die kleine Bibliothek in ihrer kleinen Stadt betrat und mit einem Schmunzeln von der Bibliothekarin verabschiedet wurde, deren Blick sagte: Kleiner, das kannst du in der kurzen Zeit niemals lesen – aber versuche es. Sie spürte sie, als sie ihre Heimat zum Studieren verließ und sich ohne weiteren Plan in den Bibliotheken versteckte, während ihr Name von der Teilnehmerliste der Seminare gestrichen wurde. Sie spürte sie, als sie ihre Kurzgeschichten und die ihrer Freunde und Bekannten kopierte, sie mit einem roten Faden zusammenband und verkaufte.
Sie spürt es, immer wenn sie sich an den Schreibtisch setzt und anfängt zu schreiben, ob für die Schublade oder auch nicht, das macht keinen Unterschied. Denn letztendlich geht es nur darum, die Zeit, den Raum mit Fantasie zu füllen, da sie ansonsten von Stillstand und Vergänglichkeit besetzt werden.
Das ist die Person, um die es hier geht. Eine von vielen. Nur eine.